Von Klara Z.

 

Ankunft Antonplatz, 25.06.22 etwa 14:10 Uhr bei schwülheißen Temperaturen und großes Staunen: Was ist denn DAS? Ein rotweißer Zaun aus Absperrgittern grenzt den Platz komplett vom freien Straßenland ab, hinter jedem zweiten, spätestens dritten Gitter posiert ein Polizeibeamter in jener Mischung aus Soldaten- und Bodyguard-Look, die seit den Demos gegen die „Maßnahmen“ der letzte Schrei sind und so manchen Schrei erstickt haben.

Dagegen hat der gewittrige Himmel ein Bedrohungspotential von annähernd Null. Aus ihm sollte sich im Laufe des Nachmittags noch eine Ladung lösen, doch leider wusch er nichts rein, schwemmte keins der Absperrgitter davon und erlöste gar nichts und niemanden. Aber der Reihe nach.

Der Kundgebungsbesucher umrundet zögernd den abgesperrten Platz, sieht auf die etwa 50 zivil gekleideten Personen in seinem Rund, auf die etwa 30 Polizeibeamten, die mindestens 16 Wannen, fünf PKWs (wie viele Beamte verharren dort?) und 8 Motorradstaffler und fasst sich, weil er endlich Diether Dehm verstehen will, mit dessen Beitrag das Programm offenbar gerade eröffnet wurde, ein Herz, schreitet auf eins der Gitter zu und erbittet „Einlass“. Eine schwarzgewandete Polizistin mit bemerkenswertem Muskeltonus, der auch ihre Stimme herrisch vibrieren lässt, bellt ihn an: Ob er ein Besucher der Kundgebung sei?! Die Antwort, das noch nicht zu wissen, da durch die Gitter gehindert man sich ja noch gar nicht darüber habe informieren können, was dort auf dem Platze überhaupt vor sich ginge, entspricht offensichtlich keiner der Einsatzbesprechungsantworten. Der Pferdeschwanz der Beamtin erstarrt. „Wollen Sie diese Kundgebung besuchen?!“, begehrt sie nochmals zu wissen. „Ich möchte gern hören, was dieser Herr dort erzählt“, befleißige ich mich zu antworten. „Sie sind nicht von der Antifa?!“ herrscht es zurück. Ich, mein geblümtes Kleidchen zurechtzuppelnd, entgegne irritiert: „Welche Antifa?“ Die Beamtin weist linksarmig mit Schwung aus ihrer sie um den Faktor 8 vergrößernden schwarzen Weste auf die andere Seite. Ah, dort, in etwa 150 Metern Entfernung, von einer vierspurigen Fahrbahn getrennt, in deren Mitte die Tram nach hie und da verkehrt, erkenne ich ein paar Transparente, keine Gitter, kaum einen Polizisten. „Äh, nein“, sage ich, „ich bin mir sicher, dass ich nicht von dieser Antifa bin.“

Dass ich meinen Rucksack nicht öffnen muss, wundert mich, denn die Polizistin taxiert mich gefühlt zwei Minuten lang, setzt mehrfach zu Worten “ ich vermute: weitere peinliche Befragungen über den Grund meiner Anwesenheit“ an, verkneift sie sich aber jedes Mal und lässt mich schließlich ein, verschließt freilich das Gitter auch sofort wieder.

Und da stehe ich nun also unter gewittrigem Himmel bei immer schwülheißeren 34 Grad umzingelt von Hamburger Gittern, auf denen schwarze Beamte reiten. Und beginne, das zu tun, das die etwa 50 anderen zivil gekleideten Menschen dort auch tun: Ich beginne zu lauschen.

Diether Dehm, Liedermacher, Lebenskünstler, ein linkes Urgestein, an dem schon vieles abgeprallt ist (so wohl auch seine langjährige Parteimitgliedschaft in der PdL), bestens gelaunt, interpretiert gerade, begleitet durch den Pianisten Michael Letz, das Lied der Bots, das zu einem der Fanfaren-Songs der Friedensbewegung werden sollte: „Das weiche Wasser“. Außerdem sagt er Wesentliches, das zu diesem Ukraine-Krieg und dem Verhalten der Bundesregierung zu sagen ist, zum „Etikettenschwindel“ der sich selbst so titulierenden „Antifa“ und darüber, dass die Nato nach der SS die zweitübelste Verbrecherorganisation gewesen ist, um zwischendurch weitere Lieder darzubieten.

Auf Dehm folgt der 94 Jahre alte Victor Grossman, jüdisch-US-amerikanischer Herkunft, der, rührend sonnenbeschirmt von dem Freien Linken Uwe, Staunenswertes aus seiner Lebensgeschichte erzählt, so z.B. von seiner abenteuerlichen Flucht vor dem US-amerikanischen Militärdienst aus Bayern, wo er damals (1952) stationiert war, in den sowjetisch besetzten Teil Österreichs, von wo aus er in die DDR gelangte, in der er, ohne je die Staatsbürgerschaft angenommen zu haben, bis an ihr Ende lebte. Und immer wieder kommt Grossman auf das namenlose Entsetzen zurück, das ein jeder Krieg ist und schafft.

Doch immer wieder auch kreischt eine megafonverstärkte Frauenstimme von der „Antifa“-Gegendemonstration dem alten Herren ins geschichtsgetränkte Selbsterlebenswort jener Gegendemonstration, die nach einem kleinen Rundmarsch um den Antonplatz herum (geschätzt etwa 50 Teilnehmer) nun wieder in 150 Metern Entfernung auf der anderen Straßenseite Position bezogen und nichts anderes zu tun hat, als mit überschlagenden Stimmen ins quietschende Megafon zu brüllen, dass alle, die da auf dem Antonplatz stünden, Neonazis und Antisemiten seien.

Herr Grossman lässt sich nicht beirren, er sagt lapidar: „Ach so, dort sind sie. Das hat man gut organisiert“, doch vermutlich können die das inmitten ihres ganzen Radaus gar nicht hören.

Victor Grossman bietet dann eine beeindruckende Analyse der imperialistischen Expansionspolitik der USA von den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts bis in die Gegenwart der Ukraine-Krise und beschwört schließlich seine Zuhörer, sich friedenspolitisch zu engagieren (z.B. bei der Großdemonstration in wenigen Tagen in Berlin).

Auf die Erzählung dieses beeindruckend freien, humorvollen und der Menschheit zärtlich zugewandten alten Herren folgt die Rede Maltes, eines Berliner Kommunarden, dessen grundgescheit die finanzkapitalistischen Hintergründe nicht nur des Corona-Geschehens, sondern auch des Ukraine-Krieges beleuchtenden Ausführungen dem staatsfinanzierten „Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus“ zum Anlass wurden, übelsten Antisemitismus zu verbreiten und Malte sowie die gesamte Veranstaltung zu diffamieren (s. hier).

Und als wenn angesichts der erschütternden Wahrheiten von Maltes Worten die Himmel weinen müssten, entlädt sich im Anschluss an sie ein Gewitter.

Es spült von den mittlerweile etwa 80 Anwesenden ca. wieder 30 davon, reinigt aber den Platz nicht von Gittern und Zugangskontrollen durch die Polizei. Gleichwohl machen die Veranstalter und die Mitwirkenden unverzagt weiter, sobald es nur noch tröpfelt. (Wie gut, dass die wieder einmal von Volkmar bereitgestellte Technik im Trocknen, nämlich im Auto hinter der „Freiluft-Bühne“ ist.)

Nach einem Lied Maltes erhebt und wie alle Beitragenden vom sachkundigen Conférencier Bernd, der mit einem eigenen, eindrücklichen Lyriktext später selbst zum Beitragenden wurde, freundlich vorgestellt, Hans von den Berliner Kommunarden seine Stimme und durchleuchtet sowohl die wirtschaftlichen Hintergründe als auch die lebensweltlichen Nebeneffekte der Kriegssituation genauer: Börse, Immobilien(blasen), Inflation in Zeiten des Krieges sind seine Themen.

Auf diese Rede folgt ein Beitrag der Freien Linken Corinna, die das Motto der heutigen Stopp-Ramsteim-Demo „Tanz der Toten“ im rheinland-pfälzischen Friedenscamp beim Wort nimmt und über Totentänze als künstlerische Form der Auseinandersetzung mit dem Menschheitsthema „Tod durch Pandemien“ informiert sowie darüber, dass die Totentänze bezeichnenderweise abbrechen, als das große Kriegssterben im 17. Jahrhundert mit dem 30jährigen Krieg beginnt: Im menschengemachten Krieg mangelt es dem Menschen an Phantasie, den Tod als leichtfüßigen, einem jeden gleichermaßen zugewandten Tänzer zu imaginieren. Corinna schließt mit bewegenden Worten über den Kontrast zwischen ihren eigenen Erfahrungen mit dem Tod, die sie lange und wie sich nun herausgestellt hat, fälschlich für das größte Grauen ihres Lebens gehalten habe, und der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten zweieinhalb Jahre bis hin zu diesem neuerlichen Krieg in Europa.

Bewegend geht es weiter: mit der Rezitation des bekannten Brecht-Textes über das „große Karthago“, das nach dem dritten Krieg nicht mehr zu finden war, durch die Freien Linken Biggi, Corinna und Julia.

Nach dieser intensiven szenischen Lesung muss sich die Berichterstatterin erst einmal ein wenig um ihr leibliches Wohl kümmern und verpasst aufgrund dessen leider ein oder zwei Beiträge. *

Nach langem neuerlichen Dräuen der Gewitterwolken klingt die Veranstaltung gegen 18 Uhr aus in überraschend sonniglicher Abendstimmung und wunderschönem Gesang des Freiheitschors Weißensee, gefolgt von einer Rede Pedros von den Freien Linken über die Gründung dieser Initiative und ihre Notwendigkeit gerade in Zeiten des Krieges. Glanzvoller Schlusspunkt der Veranstaltung ist dann die nach abenteuerlicher Zuganreise (jaja, diese ganzen Personalausfälle derzeit, nicht wahr) gerade noch rechtzeitig eingetroffene Sängerin Caro Kunde.

Als die Töne ihres letzten Liedes verklungen sind, in dem es um einen Suizid in Zeiten von Corona geht, erinnert Biggi von den Freien Linken noch dankenswerterweise spontan an Julian Assange, dem nun die Auslieferung an die USA droht, und damit an die Tatsache, dass Freie Presse heutzutage auch und gerade im „Westen“ mit der Gefahr der unrechtmäßigen Inhaftierung, der Haftfolter und der Todesstrafe verbunden ist.

Die immer noch von ihren Westen schwarzaufgeblähten Polizistinnen und Polizisten sausen derweil schon eifrig über den Platz: Die Hamburger Gitter müssen abgebaut werden. Und mit jedem verschwundenen Gitter wird dieser Ort wieder ein Stück zugänglicher. Schade, dass das erst jetzt geschieht, am Schluss dieser Veranstaltung, auf der Wichtiges über den Krieg, seine Hintergründe und die Möglichkeiten eines sozialen, kulturellen, ja: gar „politischen“ Widerstandes dagegen und gegen die Politik der herrschenden Bundesregierung gesagt worden ist.

Ich erhebe mich von der Bank, zupple mein geblümtes Kleid zurecht, gehe zur Tram und ertappe mich dabei, wie ich „die Lage checke“: Sind da etwa diese Kinder von der staatsfinanzierten sogenannten Antifa, um mir aufzulauern wie einst, vor knapp hundert Jahren, andere Schlägertrupps Menschen wie mir auflauerten? Dass die sogenannte Antifa, die eine Staatsfa geworden ist, Menschen auflauern, ist dokumentiert. Nein, in der Tram fährt Früh-Samstagabend-Publikum nach einem heißen Sommertag: eisbekleckert, brauseverklebt, schweißselig. Ein Teil von ihnen wird nach der Dusche ins Nachtleben strömen, ein Teil trotz allen Aufgedrehtseins ins Bett gebracht werden können, und der Dritte Teil wird ins Nachdenken geraten. Auf den setze ich.

*Nachtrag: Ich habe nur einen Beitrag verpasst, der mir aber nachträglich zugänglich gemacht wurde: den des Freien Linken Hanns (s. auch Aufruhrgebiet), der die Hintergründe der aktuellen Aufrüstungspolitik seitens der Regierungskoalition beleuchtete und zu dem Schluss kam, dass der ausgebliebene Protest innerhalb der SPD sowie der Gewerkschaften auf deren reformistische Führungen zurückginge, die seit Jahrzehnten an den Interessen der Arbeiterschaft vorbei agierten. Hanns plädierte dafür, dass es für die Linken an der Zeit sei, eine Initiative für eine neue, konsequent antikapitalistische Arbeiterpartei zu starten, für deren Erfolg er aufgrund des völligen Versagens aller etablierten, ehemals linken Kräfte nicht nur in der aktuellen Kriegssituation, sondern auch schon zuvor in der Corona-Krise gute Chancen sieht.